Wir sind erst am Anfang

Am 3. März veröffentlicht AnnenMayKantereit mit „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ ihr viertes Studioalbum.

Die Kölner Band AnnenMayKantereit versteht es, gefühlvolle Songs zu schreiben über alle Fragen, die junge Menschen wirklich umtreiben. Ihre Konzerte sind regelmäßig ausverkauft und ihre Social-Media-Follower gehen mittlerweile in die Milliarden. Oscar-Preisträger Sean Penn bezeichnet die Kölner Stars, die wie kumpelhafte Normalos wirken, als „great German rock band“. Die 15 traurig-schönen Songs ihres neuen Albums „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ sollen „Resilienzen stärken und Trost spenden“. Mit Gitarrist Christopher Annen, 32, sprach Olaf Neumann über Klimaproteste, KI-generierte Songs und echte Konzerte.

Im Rahmen des neuen Albums haben Sie Freunde gebeten, zum Proberaum zu kommen und mit Ihnen rumhängen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob Sie zu viele sind oder ob der Selbsttest ausreicht. War das Ihre Form von zivilem Ungehorsam in Zeiten von Corona?
Christopher Annen Nee, das passierte ja zu einer Zeit, als alles schon sehr viel entspannter war. Es war auf gar keinen Fall ziviler Ungehorsam gegen irgendwelche Coronamaßnahmen. Im Gegenteil: Wir waren eher eine sehr vorsichtige Band von der Fraktion, die eher noch einen zweiten Schnelltest gemacht hat, wenn man sich nicht sicher fühlte. Letzten Sommer waren die meisten aber schon geimpft und da konnte man dann auch sagen: „Kommt mal vorbei und lasst uns zusammen einen schönen Abend haben!“ Das tat auf jeden Fall sehr gut.

Darf man heute noch virtuoses Können an den sechs Saiten vorzeigen, ohne peinlich zu wirken?
Hmm, geht. Ich spiele auf dem Album nur einmal ein Solo, und zwar bei „Lass es kreisen“. Das ist vielleicht schon ein bisschen drüber, aber ich fand es in dem Moment cool. Bei dem langsamen Instrumentalteil, der irgendwie schneller wird, hatten wir das Gefühl, da würde ein Solo gut passen. In den meisten bisherigen Stücken hatte ich kein großes Gitarrensolo. Ich bin kein Fan von mit sehr breiten Schultern gespielten Noten.

Wer sind Ihre Gitarrenhelden?
Die Gitarristin und Sängerin von der Band Haim finde ich unfassbar. Sie hat einen krassen Sound. Vor 15 Jahren fand ich John Frusciante super cool. Der Michael von Bilderbuch ist auch so einer, bei dessen Spiel man nur den Kopf schütteln kann. Aber das mit den Helden hat sich bei mir ein bisschen erledigt.

Im Januar spielten Sie ein Open-Air-Konzert an der Mahnwache Lützerath, um die Klima-Aktivisten zu unterstützen. Wie haben Sie die Proteste gegen den Abbau von Braunkohle und den Abriss des Dorfes erlebt?
Bei unserem Auftritt waren tausende Leute. Es war sehr beeindruckend, zu sehen, wie viele Menschen der Klimaschutz mobilisieren kann.

Wie denken Sie über die Aktionen der Klimaaktivisten, die zu immer radikaleren Protestmitteln greifen? 
Gewalt lehne ich natürlich immer ab, aber eine Form von zivilem Ungehorsam kann ich irgendwo nachvollziehen. Man weiß mittlerweile alles, aber ich verstehe nicht, wieso viele Leute immer noch nicht begriffen haben, wie radikal der Klimawandel unsere Welt verändern wird. Er schränkt jetzt schon viele ein, und in 50 Jahren wird das Milliarden Menschen betreffen. Das, was auf uns zukommt, ist radikal. Dagegen zu protestieren, ohne Menschen zu gefährden, kann ich verstehen.

Sie haben einen Song für Lützerath geschrieben, „Ode an die Aktivisti“. Darin heißt es: „Die Kohle unter diesem Dorf wird nicht gebraucht und unabhängigen Gutachten wird nicht geglaubt. Und wär die Regierung klug genug ums einzusehen, müssten die Aktivisten keine Räumung überstehen.“
Henning hat den Text einen Tag vorher aus dem Ärmel geschüttelt. Er hat mir nur gesagt, welche Akkorde ich spielen soll und dann los.

Bringt eine Form des Protests wie in Lüzerath wirklich etwas? 
Auf jeden Fall. Ich bin mir nicht sicher, ob da viele Demonstrierende angereist sind mit dem Anspruch, dass Lüzerath nicht abgebaggert wird. Aber wenn der Anspruch gewesen ist, das Thema bei Leuten noch mehr auf den Zettel zu packen, dann war das bestimmt nicht unerfolgreich. In meinem Freundeskreis wurde auf jeden Fall sehr viel darüber gesprochen. Viele haben sich hingesetzt und nachgelesen, worum es da eigentlich geht.

Wenn man sie danach fragt, gibt ein Großteil der Menschen an, dass Klima und Umwelt schon wichtig seien. Aber dazu bereit, etwas an seinem Verhalten zu ändern, sind jedoch die wenigsten. Wie verhalten Sie sich als Band?
Nicht erst seit ein paar Monaten gucken wir, wie wir auf Tour zum Beispiel mehr Müll vermeiden können. Bei Promoreisen nutzen wir mehr den Zug als das Auto. Jeder von uns versucht sein Leben so zu gestalten, dass es ein wenig umweltverträglicher ist. Es ist bestimmt wichtig, als Privatperson zu gucken, was man selbst ändern kann, aber da geht es um Größenordnungen, die nicht im privaten Maßstab umgesetzt werden können. Das muss auf politischer Ebene stattfinden. Es ist nicht unwichtig, statt mit dem Auto mehr mit dem Rad zu fahren, aber wir brauchen andere politische Entscheidungen.

Die Ergebnisse des Weltklimagipfels in Ägypten blieben ja hinter den Erwartungen zurück. Ist der politische Wille für das Einhalten des 1,5-Grad-Ziels wirklich da?
Ganz offensichtlich nicht. Wir sind ja schon bei 1,2 Grad Temperatursteigerung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit. Das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten, wird immer unwahrscheinlicher, selbst das 2-Grad-Ziel wird immer schwieriger. Ich glaube, wir steuern politisch eher auf 2,5 Grad zu. Das macht einem natürlich Angst. Als der letzte Weltklimabericht rauskam, habe ich die Zusammenfassung gelesen. Darin steht, dass wir bis zwei Grad versuchen können zu modellieren, danach ergibt es keinen Sinn mehr. Wir steuern aber gerade auf über zwei Grad zu. Es wird richtig finster für ganz viele Menschen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass viele sich den Klimawandel vorstellen, als ob das ein paar extrem heiße Tage im Sommer wären oder ein Winter ohne Schnee. Dass diese viel konkreteren, schrecklichen Bilder manchmal nicht gesehen werden, macht mich schon fertig.

In der Ballade „Als ich ein Kind war“ wird wehmütig die Zeit vor dem Internet besungen. Nun sind Sie aber klassische Kinder des Internetzeitalters mit fast einer Milliarde YouTube-Clicks und Millionen von TikTok- und Instagram-Followern. Ist das Internet für Sie ein technisches Tool oder eine neue Form der Zivilisation?
Beides. Man kann sich Kultur ohne das Internet kaum noch vorstellen. Wir, die Gen Y, sind die letzte Generation, die noch ohne Smartphone aufgewachsen ist. Die Gen Z wächst komplett im Netz auf. Ich sage aber nicht nostalgisch, dass man früher noch bei den Nachbarn geklingelt hat oder es noch das Familientelefon gab. Aber dafür gibt es jetzt andere schöne Dinge.

Waren Sie schon mal im Metaverse, in der globalen virtuellen Realität, in der Menschen als Avatare herumlaufen?
Nein, das steht bei mir noch aus.

Das Musiklabel Universal hat eine Metaverse-Band gegründet: vier virtuelle Affen namens Kingship. Werden wir bald lieber virtuellen statt echten Bands zuhören?
Ich glaube nicht, dass wir Menschen komplett ersetzt werden, aber es gibt bereits einige Künstler:innen, die animierte Avatare sind. Ich denke, Text-KIs wie Chat GPT werden beim Songschreiben immer mehr unterstützend eingesetzt werden. Dass eine ganze Band nur noch als Avatare funktioniert, wird immer wahrscheinlicher. Es werden bestimmt auch immer mehr echte Bands als Avatare im Metaverse auftreten. Der Rapper Travis Scott zum Beispiel ist bereits bei Fornite aufgetreten und hat da seine Skins verkauft und einen Song gespielt. Da sind wir erst am Anfang.

Macht Ihnen als kreativer Künstler die Vorstellung Angst, dass irgendwann keine Menschen mehr, sondern nur noch KIs die Songs schreiben?
Ich glaube, so gut wie menschliche Songschreiber sind KIs noch nicht. Aber vielleicht wandelt sich der Job eines Musikers ja weiter oder es drängen manche Berufe auf den Musikmarkt, die sich das vorher überhaupt nicht vorstellen konnten. Programmierer zum Beispiel. Angst habe ich davor nicht, ich will aber auch nicht naiv wirken. Es wird eh passieren, und man muss dann gucken, an welchen Stellen man sich anpassen muss. Oder man hat da keine Lust drauf und lässt es einfach. Mittlerweile muss man auf fünf verschiedenen Social-Media-Plattformen aktiv sein mit jeweils eigenem Content. Das war vor ein paar Jahren noch nicht der Fall. Ich bin davon kein großer Freund, aber wenn man es als Band gar nicht macht, ist es schwierig.

Beeinflusst der Umstand, verschiedene Plattformen mit eigenem Content bespielen zu müssen, das Songschreiben?
Mit Sicherheit. Aber bei uns spielt das eine relativ untergeordnete Rolle. Der Song „Als ich ein Kind war“ zum Beispiel hat ein sehr langes Outro. Bei anderen Stücken hätten wir vielleicht schon vor 10 Jahren gedacht, da muss man direkt mit dem Refrain einsteigen. Aber bei dem Songwriting, was heutzutage stattfindet, wird das die ganze Zeit mitgedacht, keine Frage.

 

In den meisten bisherigen Stücken hatte ich kein großes Gitarrensolo. Ich bin kein Fan von mit sehr breiten Schultern gespielten Noten.

 

Oscar-Preisträger Sean Penn bezeichnet AnnenMayKantereit in seinem Buch „Bob Honey who just do stuff“ als „great German rock band“. Ist er im Netz auf Sie gestoßen?
Penn hat unseren Song „Some times I like to lie“ auf YouTube gehört und ihn in seinem Buch zitiert. Den Spruch „great German rock band“ hat er in einer Talkshow, wo er zu Gast war, fallen lassen. Das war sogar dem Kölner Stadtanzeiger eine Meldung wert.

Ihre mit Giant Rooks eingespielte Version von Suzanne Vegas Klassiker „Tom‘s Diner“ wurde in den USA mit Gold ausgezeichnet. Sie kommt auf über 91 Millionen Klicks bei YouTube. Voriges Jahr belegte das Cover Platz 3 der „Viral 50 – Global“-Charts bei Spotify. Was machen Sie bei 100 Millionen Klicks?
Uns einfach nur freuen. Wir gucken nicht so viel auf goldene Schallplatten oder Klicks. Ich kenne unsere aktuellen Zahlen nur, weil ich sie in Interviews gesagt bekomme. Ansonsten gucke ich sie mir gar nicht so oft an. Ich finde es aber total abgefahren, welche Wendung gerade dieser Song genommen hat. „Tom’s Diner“ war schon drei Jahre online, aber erst als wir ihn auf TikTok hochgeladen haben, ist er komplett durch die Decke gegangen.

Hat Susanne Vega sich schon dafür bedankt?
Tatsächlich hat sie uns geschrieben, dass sie unsere Version total cool findet. Sie hat dazu sogar ein Video gemacht. Das war für uns das größte Lob. Es bedeutet mir mehr als 100 Millionen Klicks auf YouTube.

Eine USA-Tour ist bei Ihnen noch nicht in Planung, aber in der Türkei haben Sie bereits gespielt. Wie war das?
Ja, das war 2018 und total abgefahren. Wir konnten uns nicht erklären, wo diese ganzen Klicks herkommen. Wir dachten, es sei ein komischer Zufall und dort will uns überhaupt keiner live hören. Aber schon am Flughafen warteten Leute auf uns. Und vor dem Club in Istanbul standen 1500 Menschen auf der Straße, die dann abgesperrt werden musste. Wir hatten einen Club gebucht mit einer Kapazität von 150 bis 200 Personen. Den vollzukriegen fanden wir schon richtig amtlich. Aber was dann passierte, war unfassbar.

Und das alles dank YouTube?
Genau. Das Publikum sang sogar deutschsprachige Songs wie „Wohin du gehst“ oder „Es geht mir gut“ komplett mit. Es war total verrückt. Zuerst dachten wir, es seien deutsche Auslandsstudis, aber es waren tatsächlich alles Einheimische.

Und was kann man von Ihrer neuen Tournee erwarten?
Es ist unsere erste große Hallentour mit Orchester. Vier Bläser und vier Streicher:innen. Mit einem frischen Album auf Tour zu gehen, ist für uns immer etwas Besonderes.

Termine
18. März / Lingen
30. März / Nürnberg
31. März / Erfurt
annenmaykantereit.com

Foto Martin Lamberty

Vergiss nicht, abzustimmen.
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Olaf Neumann

Geschrieben von Olaf Neumann

Support Your Scene – März 2023

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