Vorhang auf für das 35. Braunschweig International Film Festival, das vom 1. bis 7. November als hybrides Format an den Start geht. Wir geben euch eine Vorschau auf fünf der Heimspiel-Nominierten.
Präsenzveranstaltung – ein Begriff, der vor der Corona-Pandemie in der Regel mit Schule und Universität in Verbindung gebracht wurde. Doch nach etlichen Monaten des Kulturentzugs bekommt die Bezeichnung ein größeres, weitreichenderes Bedeutungsspektrum. Was früher eine Selbstverständlichkeit war, erfährt heute eine große Wertschätzung. So unter anderem auch das Kino: Endlich wieder im bequem-gepolsterten Kinosessel sitzen, süß-knackiges Popcorn naschen und gemeinsam mit Freunden und Fremden einen spannenden Film schauen. Kino lebt und das vor allem durch die Präsenz seiner Besucher:innen.
Umso schöner, dass das 35. Braunschweig International Film Festival in diesem Jahr vom 1. bis 7. November im hybriden Veranstaltungsformat glänzen kann. Nachdem sich das älteste Filmfestival Niedersachsens 2020 in rein digitalem Gewand samt eigens zugeschnittener Streamingplattform zeigte, findet nun die 35. Ausgabe des Filmfests teils digital, teils analog statt.
Als cineastischer Leuchtturm der Region präsentiert das Filmfest Braunschweig vielseitige Wettbewerbskategorien, die in den heutigen Zeitgeist passen. So widmet sich der Green Horizons Award, gestiftet von der Oeding-Unternehmungsgruppe, dem Thema Nachhaltigkeit; Die Tilda ehrt filmschaffende Frauen und der Queere Filmpreis Niedersachsens fördert die öffentliche Sichtbarkeit des les.bi.schwulen,trans*, inter und queeren Filmemachens.
Seit acht Jahren ist auch die Filmreihe Heimspiel eine feste Konstante des Braunschweig International Film Festivals. In der Kategorie werden filmische Werke mit regionalem Bezug gezeigt und prämiert: Das können Regisseur:innen, Schauspieler:innen, Komponist:innen aus der Region Süd-Ost-Niedersachsen sein oder aber auch Locations vom Harz bis zur Heide. Im vergangenen Jahr gewann Marcus Lenz mit seinem Drama „Rivale“, das teils in Braunschweig und teils in Kiew gedreht wurde, den Heimspiel-Preis, der von Volkswagen Financial Services gesponsert wird und mit 1 000 Euro dotiert ist.
Dass es zahlreiche weibliche Regisseurinnen gibt, beweisen die diesjährigen Heimspiel-Nominierten, von denen fünf Frauen sind. Wir werfen einen Blick auf diese fünf für den Wettbewerb nominierten Filme.
(1) „Das Mädchen mit den goldenen Händen“
In ihrem Regiedebüt „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ widmet sich die gebürtige Gifhornerin und Schauspielerin Katharina Marie Schubert der transparenten Mauer, die den Osten und Westen Deutschlands auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung trennt. Gesellschaftliche Probleme spiegelt sie auf raffinierte Weise in Familienstrukturen, denn der klassische Konflikt zwischen den Generationen wird durch den Konflikt zweier Systeme und Weltanschauungen verschärft: An ihrem 60. Geburtstag erfährt Gudrun, dass das Kinderheim aus DDR-Zeiten, in dem sie selbst elternlos aufgewachsen ist, zu einem Hotel ausgebaut werden soll. Gudrun setzt alles daran, das Kinderheim als Gemeindezentrum zu erhalten. Währenddessen macht sich ihre Tochter auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater sowie einer Erklärung für die unnachgiebige Härte ihrer Mutter.
(2) „Die Saat“
Von Braunschweig nach New York – das gelang der inzwischen 40-jährigen Regisseurin und Drehbuchautorin Mia Maariel Meyer, die in der Löwenstadt geboren ist und nach New York und London auszog, um Film und Drehbuch zu studieren. Mit „Die Saat“ feierte sie bereits im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele Berlin Weltpremiere – nun kommt der Film auch in ihre Heimatstadt. Im Schweiße seines Angesichts schuftet Rainer als Bauleiter auf einer Baustelle. Da die Mieten in der Stadt stetig steigen, ist der Familienvater mit seiner schwangeren Frau und seiner 13-jährigen Tochter Doreen in ein günstigeres Haus im Umland gezogen. Während Doreen von ihrer neuen Nachbarschaftsfreundin Mara zu bösen Streichen und Diebstahl animiert wird, muss Rainer zusehen, wie ihn der kühle Pragmatiker Jürgen auf der Baustelle ersetzt. Der Druck auf und in Rainer steigt … „Die Saat“ handelt von einer durch Kapitalismus entmenschlichten Welt, in der der Kampf für Gerechtigkeit und Integrität zur emotionalen Zerreißprobe wird.
(3) „Hella & Bernd“
Die Regisseurin Fitore Muzaqi ist in Braunschweig kein unbeschriebenes Blatt: So studierte die Kölnerin an der HBK Braunschweig im Master Communications Arts – Narrative Environments und präsentierte beim Braunschweig International Film Festival das fünfminütige Musikvideo „Adamantium“, das sie für die britische Band Drewxhill produzierte. 2021 ist sie mit ihrer Dokumentation „Hella & Bernd“ in der Heimspiel-Kategorie vertreten. Hella Sinnhuber ist Moderatorin, Bernd Casper ist Künstler. Gemeinsam verfolgen sie den Traum, einen 7 000 Quadratmeter großen Skulpturenpark zu errichten, der den Menschen als Ort für Inspiration und Freiheit dienen soll. Obwohl Bernds linke Körperhälfte seit 2014 stark gelähmt ist, kämpfen sie für ihre Visionen. Ein Film, der durch intime Geschichten rührt und die liebevolle wie auch komplizierte Beziehung zwischen Hella und Bernd beleuchtet.
(4) „Kolleginnen — Das böse Kind“
Im September vergangenen Jahres startete der Dreh für den neuen ZDF-Samstagskrimi „Kolleginnen – Das böse Kind“ unter der Regie von Vanessa Jopp. Die Verbindung in die Region bezieht sich bei diesem Heimspiel-Anwärter jedoch nicht auf die Regisseurin, sondern auf den Darsteller Cino Djavid, der seit der Spielzeit 2017/18 zum festen Schauspielensemble des Staatstheaters Braunschweig gehört und aktuell in drei Produktionen mitspielt. Nun zählt er auch zum ZDF-Hauptcast des Ermittlungsteams rund um die Hauptkommissarin Irene Gaup und ihrer neuen Kollegin Julia Jungklausen, die in „Kolleginnen – Das böse Kind“ den Cold-Case eines vermissten Mädchens wieder aufrollen.
(5) „Türkische Riviera“
An der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig tummeln sich viele Talente. Dort studierte auch die 32-jährige Regisseurin Senem Göçmen Medienwissenschaften im Bachelor, bevor sie sich dann 2012 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin einschrieb. Ihre Abschlussarbeit „Türkische Riviera“ läuft nun bei dem 35. Braunschweig International Film Festival. Der 54-minütige Dokumentarfilm beschäftigt sich mit Senems Suche nach Heimat und den Fragen: Wo gehörst du hin, in die Türkei oder nach Deutschland? Was bedeutet Heimat? Mit Interviews ihrer Eltern und Großeltern führt uns die Regisseurin durch die Höhen und Tiefen dreier Generationen türkischer Gastarbeiter:innen in Deutschland, untermalt von Analog-, Homevideo- und Archivmaterial des Alltags in der Türkei. Ein filmisches Essay, bei dem nüchterne Reflektion auf poetische Collage trifft.
Fotos 2021 Wild Bunch, kurhaus production, Fitore Muzaqui,
REAL FILM Berlin GmbH, Senem Göçmen