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Lost Places

Wie findige Cyber-Tüftler menschenleere Innenstädte wiederbeleben wollen.

Eingestaubte Schaufenster, bretterverschlagene Türen, defekte Leuchtreklamen – wer gelegentlich durch die Innenstädte der Region flaniert, wird mit der erdrückenden Tristesse der früher so belebten Bummelmeilen bereits Bekanntschaft gemacht haben. Zum Verweilen lädt dieser Anblick nicht gerade ein. Folglich bleiben die Fußgängerzonen hierzulande immer häufiger leer, Einzelhandel und Gastronomie klagen über Umsatzeinbußen, die Konkurrenz im Onlinehandel, Inflation und andere Faktoren tun da ihr übriges – ein Teufelskreis.

 

Dabei sind die von großen Handelsketten und deren grellem Geleucht gesäumten Einkaufsstraßen doch so essenzielle Räume für unsere Gesellschaft. Friedvolle Orte der Zusammenkunft und Entspannung.
Wie man die Menschen zurückgewinnen und den Fußgängerzonen so wieder zu alter Blüte verhelfen kann, ist eine der großen Fragen unserer Zeit. Ideen und Nutzungskonzepte gibt es zuhauf. Pop-Up-Stores, Ausstellungsflächen, Begegnungsstätten. Allenfalls ganz nette Gen-Z-Fantasien mit überschaubarem Potential. Denn wer will zugunsten eines Kulturzentrums oder bezahlbarem Wohnraum schon auf die sechste H&M-Filiale im Umkreis von 500-Metern verzichten? Außerdem ist es dem modernen Städter ein Grundbedürfnis sich für Erledigungen aller Art erst stundenlang im Blechboliden auf Parkplatzsuche durch die engen Gassen des Stadtzentrums zu zwängen, um sich anschließend in brutalistischem Ambiente mit dem Genuss eines Bubble-Teas zu belohnen. Auch unter ökologischen Gesichtspunkten ist der Schaufensterbummel offensichtlich alternativlos.
Dr. Professor Thorsten Thomas von der technischen Universität geht mit seinen Student:innen der Fachrichtung Computer und Kabel neue Wege und offeriert Handel und Kund:innen eine digitale Lösung für den analogen Leerstand. Unter Zuhilfenahme eines sogenannten VNF-Devices (virtuelles Nasenfahrrad) wird dem Passanten visuell eine blühende Konsumlandschaft suggeriert, die es ihm erlaubt, sich in einer scheinbar belebten Innenstadt zu bewegen. Jedes Schaufenster gesäumt mit Waren, keine unbeleuchteten Glaskäfige, keine brache Verkaufsfläche. Der Leerstand verschwindet quasi per Knopfruck. Einfach genial!
Eine gepflegte Runde Window-Shopping bei Karstadt? Das neueste Tchibo-Sortiment in der Burgpassage begutachten? Mit dem VNF-Device von Thorsten Thomas und seinem Team kein Problem. Auch unliebsame Nebenerscheinungen wie herumlungernde jugendliche, Wegelagerer und aggressive NGO-Promoter filtert der Cyber-Zwicker aus dem Sichtfeld.
Haptische Erfahrungen wie die Anprobe und den Kauf kann die moderne Technologie selbstredend (noch) nicht leisten, jedoch findet der Erwerb der Waren ohnehin nachträglich und zu niedrigeren Preisen auf dem Internet-Marktplatz statt.
Das Modellprojekt startet diesen Monat in der Region, der Handel setzt große Stücke auf die potenziell reanimierende Maßnahme von Visionär und Mastermind Thorsten Thomas. Dieser hat schon Pläne für eine Weiterentwicklung der Software, bei der sich die Innenstadt unter Anwendung des VNF-Devices auch bequem von der Couch aus erkunden lässt. So muss für die virtuelle Schaufensterbummel-Experience nicht einmal mehr der Weg in die Stadt auf sich genommen werden.

Grafik Sven Gebauer

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Sven Gebauer

Geschrieben von Sven Gebauer

In Zukunft wird mitgedacht

Rettet das Theater!