Die Digitalisierung unseres alltäglichen Lebens schreitet nicht nur wegen der Corona-Pandemie immer weiter voran. Doch wo sollten wir dem Digitalen eigentlich Grenzen setzen?
Wie bei „Ready Player One“ mithilfe eines digitalen Endgerätes in eine rein virtuelle Welt abtauchen, dort in computergenerierten Gebäuden arbeiten, studieren oder zur Schule gehen und das alles, während man sich selbst woanders befindet. Könntet ihr euch das vorstellen?
Was für die einen noch nach Science-Fiction-Roman klingt, ist für andere scheinbar längst in greifbare Nähe gerückt. Nicht nur der in Meta umbenannte Facebook-Konzern arbeitet an seiner Version einer digitalen Welt, in der so etwas einmal möglich sein könnte, auch andere Unternehmen investieren bereits in die Entwicklung digitaler Räume oder ihren Platz darin. So hat die Investorengruppe Republic Realm im Vorjahr einen Rekordpreis von 4,3 Millionen Dollar für ein digitales Grundstück ausgegeben und Klamottenhersteller Nike besitzt seit Neuestem eine Firma, die sich auf die Herstellung digitaler Sneaker spezialisiert hat. Auch NFT-Kunstwerke sind seit dem vergangenen Jahr stark im Hype und erzielen Millionenpreise. Aber werden wir jetzt tatsächlich bald alle in eine digitale Parallelwelt einziehen?
Digital Everything
Naja fast. Nach Plänen des Meta-Konzernchefs Mark Zuckerberg werden wir nämlich zunächst nicht wie bei „Matrix“ mit einem Stecker im Kopf in die digitale Welt eintauchen. Stattdessen soll sie uns eher umgeben. In einer Reihe schick produzierter Videos stellt er seine Version eines Metaversums vor und fokussiert dabei vor allem den nahtlosen Übergang zwischen realer und digitaler Welt. Zuckerberg zeigt eine Welt, in der es lediglich mit der Hilfe einer Augmented-Reality-Brille möglich ist, etwa eine Person in Form eines Avatars neben sich im Raum zu haben, als wäre sie tatsächlich da. Quasi eine Art Weiterentwicklung von Video-Calls mit der Möglichkeit, reale Gegenstände einzuscannen und andernorts mit ihnen interagieren zu können und so zum Beispiel gegen ein Team, das gerade ganz woanders ist, Basketball zu spielen. In der Berufswelt wäre es natürlich praktisch, auf diese Art Wege abzukürzen und standortunabhängig miteinander interagieren zu können. Jedoch geht es Zuckerberg längst nicht nur um die Berufswelt; er möchte das Metaverse – wie ursprünglich auch Facebook – nutzen, um Menschen in allen Bereichen des Lebens enger zu vernetzen. So schwärmt er von der Möglichkeit, mit einer Freundin auf ein reales Konzert am anderen Ende der Welt gehen zu können und es so zu erleben, als sei man selbst vor Ort. Im Metaverse-Imagevideo gehen zwei Freundinnen dann noch auf eine rein virtuelle Afterparty und kaufen dort auch gleich den entsprechenden Merch für ihre Metaverse-Avatare. Auch wenn sich Tech-Expert:innen einig sind, dass sich solch eine Technologie nicht in absehbarer Zeit oder vielleicht überhaupt nicht umsetzen lässt, scheint Zuckerberg von seiner Vision überzeugt.
Vom jetzigen Stand der Dinge bleibt das Metaverse also vermutlich eine rein digitale Parallelwelt, die sich einfach per Smartphone, Laptop oder VR-Brille betreten lässt und in der wir uns theoretisch ein komplett virtuelles Leben aufbauen könnten.
So modern, wie das zunächst klingt, ist diese Idee gar nicht, denn bereits 2003 ging mit dem Game „Second Life“ ein derartiges Projekt an den Start und fand regen Andrang bei Nutzer:innen wie Unternehmen, die sich zukünftige Absätze in der Online-Welt versprachen. Ob die Zahl der Besucher:innen dann wegen der eher mäßigen 2000er-Grafik und damit einhergehender, schlechter Immersion oder schlicht mangelndem Interesse unter den Erwartungen blieben, lässt sich nur spekulieren. Jedenfalls konnte „Second Life“ nicht gerade das revolutionäre Ausmaß annehmen, das sich anfangs davon versprochen wurde. Doch wie würde so eine digitale Lebensalternative auf dem Stand heutiger Technik ankommen?
Traum von einer besseren Welt
Wie so ein Metaversum in der heutigen Zeit aussehen könnte, lässt momentan vor allem die Gaming-Branche erahnen. So hat es das Softwareunternehmen Epic Games, welches unter anderem hinter dem Erfolgshit „Fortnite“ steht, nicht nur geschafft, durch zahlreiche Kooperation so ziemlich jedes zeitgenössische popkulturelle Franchise in seiner Spielewelt zu vereinen, sondern auch in Zusammenarbeit mit US-Rapper Travis Scott ein Live-Konzert veranstaltet, bei dem im April 2020 ganze 12 Millionen Fans in der Spielewelt dabei waren. Im digitalen Raum sind visuell und technisch natürlich wenig Grenzen vorhanden und die Vorstellung einer ganzen Welt, in der die Möglichkeiten der Realität regelmäßig überschritten werden, klingt ziemlich verlockend. Auch wenn die User momentan noch durch ihre eigene technische Ausstattung beschränkt sind und das Travis-Scott-Konzert eher einem besseren interaktiven Musikvideo glich, versprechen solche Bilder einiges für die Zukunft. Aber so schön die Präsentation und vielleicht später auch der Look von alledem aussehen mögen, so enttäuschend wird vermutlich die Realität dahinter sein.
Zuckerberg und Meta geben sich in ihren Promo-Videos menschenfreundlich: gemeinsam Zeit verbringen, Sport machen oder arbeiten. Vom Metaverse sollen alle profitieren, es soll uns näher zusammenbringen und unser Leben einfach rundum verbessern. Inwiefern der Konzern davon profitieren will, bleibt dabei aber unerwähnt. Dass es Meta in erster Linie um eine Unumgänglichkeit von sich selbst und daraus folgendem maximalen Profit im neuen Internet geht, lässt sich jedoch leicht vermuten. Auch Facebook und Instagram basieren auf der Idee, Menschen näher zusammenzubringen und unser Leben durch vermehrte soziale Interaktion zu verbessern. Wie das mehr schlecht als recht funktioniert und
mindestens so viele Nach- wie Vorteile mit sich bringt, sehen wir heute. Aus Facebook beziehungsweise Meta ist mittlerweile ein viel zu einflussreicher Tech-Gigant geworden. Statt für ein benutzerfreundliches, tatsächlich faires und soziales Umfeld im digitalen Raum zu sorgen, will Meta seine Nutzer:innen einfach möglichst lange vorm Bildschirm hängen lassen, begünstigt mit seinen Algorithmen soziale Spaltung und geht dabei sogar über die Gesundheit von Jugendlichen. Das alles in einer virtuellen Parallelwelt voller Werbung klingt eher nach Stoff für einen Dystopie-Roman statt nach einer schönen neuen Welt.
Aber brauchen wir so ein Metaverse überhaupt? So stark wie sich unser Leben während der Corona-Pandemie in den digitalen Raum verschoben hat, so stark kam in den Menschen auch wieder der Wunsch nach realem Kontakt auf. Sich in der Realität miteinander zu unterhalten ist immer noch etwas anderes als per Videochat. Von massenhaftem Email-Verkehr und Online-Meetings sind schließlich mittlerweile alle genervt und vor allem größere Events mit vielen Menschen fehlen uns seit Langem. Es ist nun einmal ein anderes Gefühl, in der Publikumsmenge vor einer Bühne oder in einem Club zu stehen und den Bass in den Füßen zu spüren, als auf einen Avatar zu glotzen, der das für einen übernimmt. Um eine wirkliche Alternative zur Realität bieten zu können, müsste sich in der virtuellen Welt noch einiges tun – bis dahin bleiben wir lieber außerhalb der Matrix.
Text Moritz Reimann
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1. Februar 2022