Der Junge Kunst e. V. beherbergt bis zum 4. November die Ausstellung „Linie aus zwei Meinungen“ der jungen französischen Künstlerin Solweig de Barry.
Mit einer Linie beginnt das Bild. Ob gerade, geschwungen, organisch, dick oder zart – Linien formen Objekte und verleihen einem Werk seinen Charakter. Bereits Pablo Picasso nutzte sie als Konstruktionsmittel und wurde bekannt durch seine expressiven Umrandungslinien. Doch auch andere Künstler:innen verwenden die Linie als besonderes Gestaltungselement. Eine von ihnen ist die französische Künstlerin Solweig de Barry. Die gebürtige Straßburgerin studierte von 2008 bis 2014 an der Universität der Künste Berlin, verbrachte 2011 ein Jahr in Israel, um an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem ihre Ausbildung zu vertiefen und erhielt zuletzt Stipendien von der Bonner Stiftung Kunstfonds sowie der Dorothea-Konwiarz Stiftung in Berlin. In ihren Arbeiten widmet sich die 35-Jährige flüchtigen Momenten, die sie vorab via Smartphone sammelt und dann einem Abstraktionsprozess aus Linien und Farbigkeit aussetzt, sodass am Ende nur ein blankes, farbiges Gerüst die Leinwand schmückt. Im Frühling 2021 hatte sich Solweig im Wolfsburger Junge Kunst e. V. für eine Einzelausstellung beworben; nach intensiven Vorbereitungen eröffnete am 3. September dort ihre Schau „Linie aus zwei Meinungen“ mit teilweise eigens für den Verein gemalten Werken. Vor der Ausstellungseröffnung haben wir uns in die Schillerstraße 23 nach Wolfsburg begeben, um mit der talentierten Künstlerin über ihren faszinierenden Arbeitsprozess, flüchtende Momente und das patriarchale Kunstsystem zu sprechen.
Solweig, willkommen in Wolfsburg. Hat es dich vorher schon mal in die Region verschlagen?
Nicht so richtig. Ich bin immer mal wieder mit dem Zug durchgefahren. (lacht) Ich war vor etlichen Jahren einen Tag im Kunstmuseum Wolfsburg. Danach bin ich aber gleich wieder nach Berlin gefahren.
Seit dem 3. September gibt es in der Jungen Kunst deine Einzelausstellung „Linie aus zwei Meinungen“ zu sehen – der Titel klingt, wenn man genauer darüber nachdenkt, etwas paradox. Wie kann eine Linie aus zwei Meinungen entstehen oder existieren?
Ich wählte dieses Paradoxon, da es in meinen Arbeiten oft eine Rolle spielt. Linien sind ein wichtiger Bestandteil meiner Werke, da ich viel mit ihnen arbeite. Damit sind nicht nur gemalte Linie gemeint, sondern etwa auch die Linien des Rahmens, der mir gegeben wird. Eigentlich haben mich unterschiedliche Linien zum Titel gebracht. Eine Linie kann vieles sein. Sie muss nicht gradlinig sein, sondern kann auch abbiegen und sich verästeln. Außerdem versuche ich immer ein Gleichgewicht in meine Arbeit zu bringen. „Linie aus zwei Meinungen“ bedeutet quasi, auf der Linie das Gleichgewicht zu halten und dass sich zwei Meinungen auf einer Linie treffen können.
In deiner Kunst fängst du alltägliche Situationen und Erfahrungen mit der Kamera ein und bringst sie dann auf die Leinwand. Wann ist ein Moment für dich abbildungswert?
Es sind wirklich alltägliche Momente. Oft überkommt mich ein Gefühl und ich denke: Ah, das sieht gerade so toll aus, das muss ich fotografieren. Das kann ein Sonnenuntergang oder ein Familienporträt sein. Ich fotografiere aber nicht mit dem Gedanken, dass ich es danach malen werde. Es ist tatsächlich voneinander getrennt.
Wie wählst du ein Foto als Vorlage aus?
Ich sitze im Atelier, scrolle durch mein Fotoarchiv und schaue, was mich gerade inspiriert. Dabei komme ich von diesem eigentlichen Moment komplett weg, tauche in das Foto ein und sehe es gar nicht mehr als Moment, sondern als Werkzeug. Es sind dann eher einzelne Elemente, die ich aufnehme und kombiniere.
„Natürlich wäre es schöner, wenn man Frauenquoten generell nicht bräuchte. Aber wie soll es anders gehen?“
Deine Werke zeigen in der Regel flüchtige Momente, die du auf der Leinwand so weit reduzierst, bis nur noch das Gerüst übrig bleibt. Ist das dein Rezept gegen das Gefühl, dass die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt? Du nimmst dir ja quasi Zeit für flüchtige Momente …
Ja, das stimmt. Ich investiere sogar sehr viel Zeit. Aber für mich ist es kein Rezept dafür, den Moment länger anzuhalten. Während ich arbeite, bin ich auch gar nicht mehr im Moment des Fotografierens, sondern im Hier und Jetzt. Es geht schon darum, sich Zeit dafür zu nehmen und die Elemente zu zersetzen und neu zusammenzubringen. Es zählt dabei immer der jetzige Moment, deshalb ändert sich mein Gefühl auch Tag für Tag, auch wenn ich am gleichen Bild male.
Dadurch, dass deine Werke die Flüchtigkeit des gelebten Augenblicks aufzeigen, haben sie auch eine spontane Wirkung. Wie lange sitzt du im Durchschnitt an einem Werk und wann erklärst du es als fertiggestellt?
Das ist sehr unterschiedlich und gar nicht mal so einfach. Manchmal spielen äußerliche Umstände eine Rolle – wie jetzt zum Beispiel diese Ausstellung, zu der gewisse Arbeiten fertig werden mussten. Der Augenblick, an dem ich ein Werk für fertig erkläre, ist oftmals der, an dem ich ein Gleichgewicht im Bild erkenne. Es geht da auch gar nicht um Perfektion. Ganz im Gegenteil! Es sind auch oft Momente, die ich als störend empfinde, die dann den Punkt setzen. Manchmal sind es aber auch Gespräche.
Inwiefern Gespräche?
Es sind Menschen von außen, die in mein Atelier kommen und zwar nicht unbedingt sagen, dass das Werk fertig ist, aber durch sie verstehe ich am besten, wo ich mit dem Bild stehe, beziehungsweise wie es mit mir in Verhältnis steht. Es ist ein Blick von außen, der mir hilft.
2020 bist du mit dem Goldrausch-Stipendium ausgezeichnet worden – ein kostenfreies Qualifizierungsprogramm für Künstlerinnen. Statistiken belegen, dass Frauen in der Kunstszene benachteiligt werden und weniger Möglichkeiten zum Ausstellen bekommen. Besonders Mütter sind davon betroffen, weil Mutterschaft oft noch als Gefährdung der Professionalität angesehen wird. Ist das Kunstsystem patriarchal und sexistisch?
Generell möchte ich betonen, dass es allgemein für Künstler:innen schwierig ist, Ausstellungsräume zu bekommen. Aber ja, ich stimme dir da auf jeden Fall komplett zu. Ich habe letztens zum Beispiel eine Ausstellung besucht und war empört beziehungsweise fast schon angeekelt davon, dass eigentlich 80 Prozent der Künstler:innen Männer waren. Das fand ich total unangenehm. Mütter haben es noch schwerer in der Kunstszene. Ich bin selbst Mutter und weiß, wie es ist. Hätte ich dieses Goldrausch-Jahr nicht gehabt, wäre ich womöglich nicht an dem Punkt, an dem ich jetzt bin – aber nicht wegen des Kindes, sondern wegen des Systems. Deshalb sind solche Institutionen ziemlich wichtig für Frauen. Es ist schön zu sehen, dass es Bewegungen gibt, die wirklich etwas verändern. Männer haben es noch viel einfacher. Durch den Mutterschutz bekommt man auch eine Lücke im CV, die sich aber vor allem mental zeigt. Diese mentale Lücke wieder aufzufangen, war für mich eine schwere Sache – die CV-Lücke ist mir hingegen mittlerweile völlig egal.
Braucht es eine Frauenquote in der Kunst?
Natürlich wäre es schöner, wenn man Frauenquoten generell nicht bräuchte. Aber wie soll es anders gehen? Wenn es gleichviele Galerien, geleitet von Männern und Frauen, geben würde, dann wäre es wahrscheinlich auch homogener und einfacher. Aber wenn zwei ältere Männer, die eine Ausstellung kuratieren, nur Männer ausstellen, dann finde ich das ekelig, weil es nicht mehr zeitgemäß ist.
Einige Menschen haben Berührungsängste vor Kunst – besonders vor zeitgenössischer Kunst. Vielleicht, weil sie glauben, sie nicht zu verstehen. Welche Potenziale stecken in zeitgenössischer Kunst?
Es ist ganz normal, nicht alles zu verstehen und es wird auch von keinem erwartet, ich verstehe auch nicht immer die zeitgenössische Kunst. Aber ich weiß, dass sie Potenziale hat und sie für mich wichtig ist. Zeitgenössische Kunst gibt mir die Möglichkeit, meine Wahrnehmung der Realität zu hinterfragen und neu zu definieren. Sie ist für mich zugleich eine Art, die Welt zu erfassen und anzueignen, wie auch ein Spielfeld der Imagination, in dem ich mich mit dem Möglichen und dem Realen befassen und in meinem Fall zum Ausdruck bringen kann.
Und wie bist du eigentlich zur Kunst und Malerei gekommen?
Für mich war schon immer klar, dass ich irgendetwas Kreatives machen möchte. Nur die Richtung wusste ich ziemlich lange nicht. Ich glaube, ich habe mich auch dazu entschieden, Künstlerin zu werden, ohne zu wissen, was es bedeutet. Sonst hätte ich es gar nicht gemacht. (lacht) Es war ein Moment, an dem ich das Malen entdeckt habe und wie viel es mir bringt. Das hat mich zur Kunst geführt und mir so viele Möglichkeiten eröffnet.
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„Linie aus zwei Meinungen“
bis 4. November | Junge Kunst e. V. (WOB)
junge-kunst-wolfsburg.de
Fotos Denise Rosenthal