3 500 Jahre jüdische Kultur, 1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und 76 Jahre Gedenken
Natursteinelemente zieren das Backsteingebäude in der Steinstraße. Im historistischen Rundbogenstil und fein gegliedert mit Zickzackfries folgt die Fassade der Straßenkrümmung. Angrenzend offenbart sich eine hohe, schlichte Wand, schmucklos und kühl, trotz des sonnengelben Anstrichs. Einst stand an dieser Stelle in der alten Knochenhauerstraße die Neue Synagoge. Während der Novemberpogrome 1938 wurde diese schwer beschädigt, von den Nationalsozialisten abgerissen und durch einen Bunker ersetzt. Die Neue Synagoge steht nicht mehr – anders als das zierlich abgerundete Eckhaus; das heutige Jüdische Gemeindezentrum.
Renate Wagner-Redding ist seit 1993 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig. Zeit ihres Amtes, so viel steht fest, hat Frau Wagner-Redding zahlreiche Veränderungen erlebt, unterstützt und auch angestoßen. Da wäre die Aufnahme der Kontingentflüchtlinge in den 90er Jahren, derer sich die Gemeinde mit begrenzter Hilfe des Landes annahm, oder das Jahr 1995, als die Gemeinden Oldenburg und Braunschweig gemeinsam eine Frau als Rabbinerin einsetzten und so einen bundesweiten Aufschrei provozierten: „Ich denke schon, dass wir als kleine Gemeinde in Niedersachsen so einiges erreicht haben“, sagt Frau Wagner-Redding, die für ihr Engagement 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Vor 25 Jahren zählte die Gemeinde noch knapp 80 Mitglieder, heute sind es um die 200 – für viele von ihnen ist die Gemeinde Familie und das Gemeindezentrum ein Zuhause geworden.
2006 kam es also zum notwendigen Umbau der Synagoge, was übersetzt „Ort der Versammlung“ bedeutet. „Wichtig war uns vor allem, alt und neu zu verbinden und endlich auch größere Veranstaltungen ausrichten zu können“, erklärt Frau Wagner-Redding. Erfolgreich wurden die vielen Pläne umgesetzt, die Synagoge entsprechend der Wortherkunft modern und flexibel gestaltet; mit Trennwänden, die eine schnelle Umfunktionierung ermöglichen. „Nun gibt es hier Seniorenclubs, Filmnachmittage und Literaturkreise“ – für gewöhnlich zumindest, denn seit vergangenem Jahr werden viele Pläne von der COVID-19-Pandemie durchkreuzt. „Die vielen Schulklassen, die ich sonst hier habe, und die lebendigen Unterhaltungen fehlen mir“, beklagt Frau Wagner-Redding, „besonders jetzt zum Jubiläumsjahr“.
In der Tat ist 2021 ein besonderes Jahr. Die ersten Zeugnisse, dass sich Menschen jüdischen Glaubens im heutigen Staatsgebiet ansiedelten, datieren 1 700 Jahre zurück. Ein Anlass, der einige Interessierte in die Region zieht, die historisch sehr bedeutsam für das Judentum ist: Das kleine Harzstädtchen Seesen, nur knappe 60 Kilometer von Braunschweig entfernt, gilt als ein frühes Zentrum des liberalen Judentums. Anfang des 19. Jahrhunderts eröffnete dort die Jacobsonschule, benannt nach ihrem Stifter Israel Jacobson – eine Reformschule, die christliche und jüdische Lernende unter einem Dach zusammenbrachte und somit ein Zeichen für Toleranz setzte.
Dieser Tradition verschreibt sich heute das Israel Jacobson Netzwerk, das seit 2016 regionale jüdische Kultur in Geschichte und Gegenwart erforscht und vermittelt. Renate Wagner-Redding ist eine Vorsitzende des Netzwerks, das jüngst bewies, wie spannend Bildungsarbeit sein kann. „Das Israel Jacobson Netzwerk ist ein Verein, der das Thema Jüdische Kultur in den Blick nimmt“, erzählt Rebekka Denz, studierte Judaistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim IJN, „alle sind herzlich willkommen, mitzumachen – ganz egal, ob jüdisch oder nicht.“ Ziel ist, zu informieren sowie Engagierte und Interessierte zusammenzubringen – auch in diesem Jahr und unter erschwerten (Pandemie-) Bedingungen. Dass das funktionieren kann, bewiesen bereits vergangenes Jahr zahlreiche digitale Formate im Rahmen der Jüdischen Kulturtage. Zum Jubiläumsjahr 2021 präsentierte das IJN mit der „Operation Legendär“ eine Augmented-Reality-App, die die Seesener Reformsynagoge wieder auferstehen lässt und spielerisch an die historischen Umbrüche in der Region heranführt. Auch für den Sommer 2021 hat das IJN zahlreiche Jubiläumsveranstaltungen geplant – open air wie auch digital.
Bildungsarbeit wie diese ist nicht nur spannend, sondern auch dringend notwendig: Immerhin steht das Jahr 2021 für etwa 3 500 Jahre jüdische Kultur, für 1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und für 76 Jahre Gedenken. Nicht nur die gewaltige gelbe Wand neben dem Haus der Jüdischen Gemeinde erinnert in Braunschweig an die Shoah.
Die Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße eröffnete 2000 – und ist ein Mahnmal für eine Zeit, die nie in Vergessenheit geraten darf. Frank Erhardt leitet die Gedenkstätte und ist außerdem im Vorstand des Arbeitskreises Andere Geschichte. Seit Jahren forscht er zu jüdischer Geschichte und zu Antisemitismus – ein Phänomen, das viel älter ist als der Nationalsozialismus: „Uns interessiert der historische Antisemitismus, der nicht erst 1933 begann“, berichtet er, „von rechten Parteien wurden Vorurteile bewusst genutzt und geschürt. Dagegen hat man schon damals gekämpft und muss man auch heute wieder kämpfen“. Dass Antisemitismus ein singuläres, gesellschaftliches Problem ist, ist nicht zu leugnen. Maßnahmen, die dagegen halten, kommen dennoch nur sehr langsam ins Rollen. Doch es gibt zögerliche Fortschritte zu verzeichnen: Seit 2019 verfügt das Land Niedersachsen über einen Antisemitismus-Beauftragten. Im Oktober vergangenen Jahres eröffnete in Hannover Niedersachsens erste und einzige Recherche und Informationsstelle Antisemitismus, kurz RIAS. Antisemitische Vorfälle dort zu melden, sich zu informieren und mit Betroffenen zu solidarisieren ist wichtiger denn je: „Es wäre naiv zu meinen, rassistische und antisemitische Diskurse würden völlig verschwinden. Sie erscheinen in immer neuen Formen und finden Verbreitung und Förderung“, betont Frank Erhardt.
Wie aber dem Antisemitismus entgegenwirken? „Vor allem mit Bildung“, sagt Renate Wagner-Redding. Deshalb ist die herzliche Offenheit der Jüdischen Gemeinde, Initiativen wie das Israel Jacobson Netzwerk und die Forschungen des Arbeitskreises andere Geschichte so wichtig. „Es liegt nicht bei Juden, antisemitische Vorurteile abzubauen“, mahnt Rebekka Denz, jeder kann dazu beitragen, Antisemitismus entgegenzuwirken. Ob säkular oder atheistisch, orthodox, liberal oder konservativ – das Judentum ist vielfältig und bedeutet nicht für alle das Gleiche. Diese Vielfalt zu schützen bedeutet auch die Vielfalt unserer Region zu wahren und sollte daher nicht nur Anliegen von Forschungs- und Bildungseinrichtungen sein, sondern obliegt der Verantwortung eines jeden Einzelnen.
Infobox
Schau nicht weg, wenn du Zeuge antisemitischer Vorfälle wirst – informiere dich auf www.stopantisemitismus.de und melde Übergriffe stets bei der RIAS – Recherche und Informationsstelle Antisemitismus.
Text Isabel Pinkowski
Fotos Israel Jacobson Netwerk, yuri_yavnik-stock.adobe.com