Musiktheater im großen Haus – Ein Blick von außen auf einen ungewöhnlichen Opernabend.
Es ist ein nasskalter Tag im Februar, als ich mich entschließe, im Staatstheater die moderne Oper „Dog Days“ anzuschauen. Vielleicht nicht die beste Zeit für harte Themen, wo die meisten von uns zu dieser Jahreszeit eh schon schlecht drauf sind. Eine halbe Stunde vor Beginn gibt es an der Bar im Luis-Spohr-Saal des Großen Hauses Primitivo und Merlot für 5 Euro, doch ich habe mal wieder nichts in der Tasche. (Hier ein kleiner Ausschnitt aus einem Gespräch neben mir: „Wie geht es Peter?“ – „Unterirdisch…“)
Elegant in die Endzeit
Die Leute hier sehen allesamt sehr elegant aus in ihrer gebügelten Ausgehkleidung. Außer mir, denn ich bin – ohne mir große Gedanken zu machen – in Kapuzenpulli und Jeans aufgelaufen. Bevor es losgeht, unterhalte ich mich im Saal mit einem freundlichen Paar hinter mir. Die beiden haben ein Abonnement, wie wohl die meisten heute Abend. Grundsätzlich ist der Saal recht leer. Vielleicht mögen es die Opern-Fans aus Braunschweig lieber traditionell? Der Komponist der Oper David T. Little kommt schließlich eher aus der Rock/Metal-Ecke und im (heute sehr kleinen) Orchestergraben ist auch eine E-Gitarre am Start. Für mich jedenfalls ist das ein klares Plus.
Unerwarteter Ausblick
Zu Beginn ist alles still. Ein dreckiger Typ im Pelzmantel klettert an einem Gebäude hoch, das die Bühne vollständig ausfüllt. Im ersten Stock wird statt des Fernsehprogramms ein Flimmern auf die Wand projiziert. Dann tritt im Handumdrehen die gesamte Familie nacheinander auf: Von hinten kommt ein Teenie auf die Bühne – das ist die Tochter Lisa, gefolgt von der Mutter mit einem Karton in den Händen und dem Vater in Safari-Weste von der anderen Seite. Danach die Brüder Pat und Elliot in Basketball-Trikots.
Der erste Satz, der fällt, stammt vom Vater Edward: „Bring me my gun“ singt er im Bariton, begleitet von dramatischen Klängen aus dem Orchester. Klar ist auf jeden Fall: Hier wird gesungen, wie es in Opern so üblich ist. Das sorgt auch gleich für Irritationen meinerseits, wenn einer der Brüder wiederholt in Opernmanier „That stupid fucking thing“ singt – gemeint ist wohl das Gewehr. Doch schneller als gedacht gewöhne ich mich daran. Die ruhige Stimme der Mutter, gespielt von Ivi Karnezi, wird mich mit ihrem Legato-Gesang im Laufe des Stücks noch von Kopf bis Fuß einwickeln wie eine Spinne in ihr Netz.
Das Beste an diesem Abend ist aber das Bühnenbild. Kompliment, ehrlich, ich liebe es. Wie gesagt, die komplette Bühne ist vom Wohnhaus der Familie ausgefüllt. Ein geschachtelter, aalglatter Betonbau, der den Eindruck erweckt, als wären auf halber Strecke beim Bauen das Budget oder die Materialien ausgegangen – von Schöner Wohnen kann jedenfalls nicht die Rede sein. Einzig der rote Lancia im angedeuteten Carport links auf der Bühne ist makellos schön. Nicht gerade ein Familienwagen, vielmehr ein sportlicher Oldtimer – einer den jemand liebt. Zeitweise wird er zum Rückzugsort für den Vater, der die Welt nicht mehr zu verstehen scheint, in der er mit seiner Familie lebt.
Ein nie endender Sommer
Dog Days, das ist der Begriff für die heißesten Tage des Jahres. Nur hier sind sie zum Dauerzustand geworden. Von Lisa erfahren wir: Es ist bereits Oktober, der Himmel ist gelb geronnen und die Stille betäubt ihre Ohren. Sie leben in einer Geisterstadt. Die Mutter fegt Unmengen tote Insekten mit dem Schuh weg und die Brüder rauchen schon wieder Joints oben auf dem Balkon. Auch wenn es längst kein Benzin mehr gibt, putzt der Vater noch den Wagen.
Hubschraubergeräusche – ein Essenspaket wird abgeworfen. Angeblich herrscht Krieg, doch es gibt längst keine verlässlichen Informationsquellen mehr. Kein TV und kein Handyempfang jedenfalls. Alle Läden und Schulen sind geschlossen und in der Nachbarschaft sind längst alle fortgegangen oder tot. Während sich Lisa nach ihrer Freundin Marjorie sehnt, der sie vergebens über ihr Handy SMS schreibt, verlieren sich ihre Brüder in Tagträumen von einer Zukunft voller sexueller Abenteuer oder sie laufen durch die verlassene Stadt und schauen sich Leichen in Wohnhäusern an. Zusammen kommt die Familie nur am Abendbrottisch, wo die Eltern dafür sorgen, dass sich die Kinder ‚gut benehmen‘.
Dann taucht der Streuner wieder auf. Auch er ist einer der Übriggebliebenen, doch er macht ernst mit den Dog Days. So sehr, dass er selbst zum Hund in Gestalt eines Mannes wird. Er spricht nicht, sondern bellt höchstens mal oder hechelt und wälzt sich in seinem Pelzmantel auf dem Boden. Vielleicht ist das die Strategie seiner Psyche, um irgendwie mit dem Leben in der Geisterstadt klarzukommen. Lisa freundet sich mit ihm an und tauft ihn auf den Namen Prince. Nach kurzer Verwunderung behandelt sie ihn so, wie Menschen typischerweise mit Hunden umgehen. Eine wirkliche Antwort darauf, warum er die gesellschaftliche Norm, sich wie ein Mensch zu verhalten, missachtet gibt es nicht. Offenkundig ist die Gesellschaft bloß noch als Erinnerung vorhanden. Wer soll da noch vorgeben, was Normalität ist?
Nebenwirkungen des Besuchs
Die Oper findet kein gutes Ende. Nicht dass ich es erwartet hätte. Zum Schluss gibt es nichts mehr zu essen, denn statt Nahrung gab es Windeln mit der letzten Lieferung. Da helfen auch die gesungenen Gebete der Familie nicht. Den zunehmend aggressiver werdenden Brüdern geht das Gras aus und damit ihre Hauptbeschäftigung. Von Moral und Hoffnung bleibt ebenfalls nicht viel übrig. Es ist vorbei. Das Licht geht aus. Langsam setzt wohlwollender Applaus ein, der dann doch nicht enden will, während sich die Beteiligten der Oper im Haus auf der Bühne zum Verbeugen sortieren. Der Regisseur kommt merkwürdigerweise mit der melierten Mütze von Prince auf die Bühne.
Jedes Auto, das ich auf dem Heimweg sehe, zaubert ein Lächeln in mein Gesicht. Überall Zeichen der Zivilisation. Die Tankstelle hat offen, im Kühlschrank in meiner Wohnung finde ich auch noch etwas. Da erwische ich mich dabei, wie ich leise diesen einen Song von Florence and the Machine singe: „The dog days are over. The dog days are o-over.“
Termine
03.03., 26.03., 13.04., 13.05., 28.05.2023 |
Staatstheater (BS)
staatstheater-braunschweig.de
Text Lisa Leguin
Foto Thomas M. Jauk