Festival Theaterformen
5. und 6. Juli | Staatstheater (BS)
theaterformen.de
Ein Tanzstück der besonderen Art: „The Way You Look (at me) Tonight“ wird im Rahmen des Festival Theaterformen am 5. und 6. Juli im Großen Haus des Staatstheaters aufgeführt.
Beim diesjährigen Festival Theaterformen, das vom 30. Juni bis zum 10. Juli in der Löwenstadt zu Gast ist, zeigen die Choreograf:innen Claire Cunningham und Jess Curtis im Großen Haus des Staatstheaters ihren sinnlichen Abend „The Way You Look (at me) Tonight“. Darin beantworten sie spielerisch die Frage, wie wir einander ansehen und auf welche Weise Behinderung, Gender oder Alter unsere Wahrnehmung beeinflussen. Und das Publikum sitzt mittendrin.
Die schottische Choreografin Claire Cunningham verweigert sich tänzerischen Traditionen und Körpernormen und entwickelt eine eigene Bewegungstechnik, die einzig auf den Möglichkeiten ihres eigenen Körpers aufbaut. Dabei nutzt und (zweck-)entfremdet sie ihre Krücken als Erweiterung ihres tanzenden Körpers. 2021 wurde sie mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet. Der Choreograf und Tanzwissenschaftler Jess Curtis lebt in den USA und Deutschland und hat die Weiterentwicklung der Contact Improvisation maßgeblich geprägt. Mit seiner transkontinentalen Company Gravity entwickelt er Stücke, die sich mit Themen von Gender, Sexualität und Behinderung auseinandersetzen. SUBWAY traf die beiden zum Interview.
Claire, Jess, worum geht es in „The Way You Look (at me) Tonight“?
Claire In dem Stück geht es um das Thema Wahrnehmung – wie wir die Welt durch unsere Körper wahrnehmen, wie unsere Körper unsere Wahrnehmung der Welt prägen. Wir haben während der Entstehung des Stücks mit dem Philosophen Alva Noë zusammengearbeitet und uns mit seinen Theorien über die Wahrnehmung beschäftigt: Sie besagen, dass Wahrnehmung nicht nur etwas ist, das im Gehirn passiert, sondern dass der ganze Körper darin involviert ist – indem wir uns durch die Welt bewegen und indem wir auf vielfältige Weise empfinden. Das klingt vielleicht alles ein bisschen schwer und intellektuell, aber keine Sorge! Die Atmosphäre des Stücks ist locker und Jess und ich sprechen über unsere Freundschaft und darüber, was uns in der Welt auffällt, basierend auf unseren unterschiedlichen Körpern und gelebten Erfahrungen. Und wir haben unsere eigene offene und lustige Art, mit diesen Wahrnehmungstheorien zu spielen, bei der unser Publikum mitmachen kann, wenn es möchte. Und wir tanzen auch ab und zu!
Jess Für mich geht es auch darum, dass wir tatsächlich entscheiden können, wie wir einander wahrnehmen. Dass wir vielleicht einige schlechte Angewohnheiten erlernt haben, die in historischen und sozialen Ungleichheiten wurzeln: Zum Beispiel Menschen, die anders aussehen als wir, nur aus dem Augenwinkel zu betrachten. Und dass wir lernen können, bessere Entscheidungen zu treffen, um uns gegenseitig klarer wahrzunehmen und zu sehen.
Was hat euch motiviert, ein Stück zu diesem Thema zu entwickeln?
Claire Wir haben uns beide bereits in unseren eigenen Arbeiten auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Wahrnehmung auseinandergesetzt und als wir beschlossen, wieder zusammenzuarbeiten, war diese Faszination eine Gemeinsamkeit. In meiner eigenen Arbeit habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich mich in Räumen bewege, auch als behinderte Person, und ich interessierte mich dafür, wie ich und andere behinderte Menschen die Welt wahrnehmen und wie das unsere Entscheidungen beeinflusst. Weil ich Krücken benutze, achte ich beispielweise mehr auf den Boden, auf die Glätte des Untergrunds, suche die für mich einfachsten Wege.
Wie begann eure Zusammenarbeit?
Claire Wir lernten uns 2004 kennen, als Jess mich als Tänzerin für ein Stück engagierte. Das Problem war allerdings, dass ich damals noch keine Tänzerin war und auch nicht die Absicht hatte, eine zu werden! Das teilte ich Jess am ersten Tag dickköpfig mit – armer Jess! Glücklicherweise überredete er mich ganz ruhig und vorsichtig, mich zu bewegen, den Tanz zu erforschen, und zwar so, dass ich total fasziniert war und mich auf den Weg machte, selbst zu erforschen, wie ich mich bewegen und tanzen könnte.
Jess Claire und ich haben uns in einem kalten Lagerhaus in den Midlands von England kennengelernt, das nach Diesel stank, aber eine ausreichend hohe Decke hatte, um ein Tuch für Vertikalakrobatik darin aufzuhängen. Nachdem Claire klargestellt hatte, dass sie definitiv KEINE Tänzerin, sondern eine Sängerin und Luftakrobatin ist, konzentrierte ich mich auf die Luftarbeit mit ihr. Aber ich bemerkte immer wieder, wie interessant Claire sich mit ihren Krücken bewegte oder auf ihnen balancierte, wenn sie das Lagerhaus betrat und sich im Raum bewegte. Ich überzeugte sie davon, eine kurze Sequenz ihrer Bewegungen zu „choreografieren“, um sie vom Bühnenrand zu dem in der Mitte hängenden Tuch zu bringen. Es funktionierte! Wir dehnten diesen Auftritt auf einige Umrundungen der Bühne aus und der Rest ist Geschichte!
Wie würdet ihr eure persönliche Verbindung zu euren Körpern beschreiben?
Claire Ziemlich gut … Ich wurde damit geboren! Nein, im Ernst, meine Beziehung zu meinem Körper hat sich im Laufe meines Lebens ständig verändert und weiterentwickelt und das tut sie auch weiterhin. Als Kind war ich sehr davon geprägt, was die Gesellschaft über meinen Körper dachte, und der Einfluss medizinischer Fachleute führte dazu, dass ich meinen Körper nur als einen Ort sah, an dem etwas falsch war. Ich konnte nur sehen, wie sich mein Körper von den normativen Körpern unterschied, und das nur im negativen Sinne. Mein Körper wurde von anderen objektiviert und so lernte ich, das auch zu tun. Erst in meinen späten Zwanzigern, als ich anfing, im Tanz zu arbeiten, begann sich meine Sichtweise auf meinen eigenen Körper zu ändern. Ich erkannte, dass er – wie alle Körper – bemerkenswert ist und unglaublich geschickt – insbesondere in der Art und Weise, wie er die Krücken integriert und mit ihnen arbeitet. In den letzten Jahren hat sich das auch dahingehend entwickelt, dass ich diesen erweiterten Körper – meinen Körper aus Fleisch und Blut zusammen mit meinen Krücken – jetzt eher als einen Vierbeiner denn als Zweibeiner betrachte. Für mich war es so wertvoll, als ich anfing zu tanzen, dass ich begann, die Intelligenz meines ganzen Körpers zu spüren und zu respektieren und auf sie zu hören, anstatt mich abgekoppelt zu fühlen – wie ein Gehirn mit einem daran hängenden Körper – so wie ich mich die meiste Zeit meiner Kindheit und Jugend gefühlt hatte.
Jess Ich springe auf den philosophischen Zug auf und stelle fest, dass ich trotz der jüdisch-christlichen Binarität zwischen Körper und Selbst, von der du sprichst und mit der ich aufgewachsen bin, ziemlich früh in meinem Leben zu der Überzeugung gekommen bin, dass „ich“ in der Tat mein Körper „bin“. Ich bin nicht nur ein geistiger Pilot, der eine fleischliche Maschine steuert. Ich glaube, dass die Binarität von Selbst und Körper für viele Ungerechtigkeiten in der Welt verantwortlich ist. Darüber hinaus bin ich sehr sportlich aufgewachsen. Als ich etwas später zum Tanz kam, fühlte es sich wie ein großartiger Raum an, in dem ich mich ausleben und aus meiner ganzen Erfahrung herausarbeiten konnte.
In „The Way …“ ladet ihr das Publikum ein, sich zu beteiligen oder mit euch auf der Bühne zu sitzen. Was ist eurer Meinung nach das Besondere an dieser Erfahrung?
Claire Wir sind daran interessiert, wie wir unsere Zuschauer:innen dazu einladen können, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie sie den Abend wahrnehmen – mit den Sinnen und mit dem Körper, und wie wir sie dazu ermutigen können, dies selbst aktiv zu gestalten. Zum Beispiel, indem sie bewusst ihren Blick steuern: Wir geben ihnen die Wahl, um sich herum zu schauen und nicht nur geradeaus wie bei frontalen Aufführungen. Und indem sie die Möglichkeit haben, Jess und mir wirklich nahe zu sein und vielleicht sogar in Körperkontakt mit uns zu treten, wenn sie das möchten. Außerdem bin ich als Performerin daran interessiert, zu lernen, mit einer größeren Nähe zum Publikum zu arbeiten, und als behinderte Person gehe ich normalerweise nur sehr ungern in interaktive Aufführungen – daher war ich sehr daran interessiert, wie wir einen Abend schaffen könnten, der interaktiv ist und zu Berührung und Nähe einlädt, der sich aber auch für behinderte Zuschauer:innen sicher anfühlt, ebenso wie für viele andere Theaterbesucher:innen, die dieser Art von Aufführungen oft skeptisch gegenüberstehen.
Was ist eure Botschaft an euer Publikum in Braunschweig?
Claire Kommt! Es ist ein lustiger, warmherziger Abend, der auf vielen verschiedenen Ebenen für viele verschiedene Leute funktioniert. Leute, die normalerweise keinen Tanz ansehen, haben es geliebt, genauso wie Leute, die viel Tanz sehen. Wir weisen zu Beginn offen darauf hin, dass man jederzeit gehen kann, wenn man sich nicht wohlfühlt. Wir heißen also wirklich alle willkommen, und besonders auch behinderte, taube, sehbehinderte oder chronisch kranke Menschen.
Jess Ja, genau!
Barrierefreie Angebote zu „The Way You Look (at me) Tonight“: Audiodeskription, Übersetzung in Deutsche Gebärdensprache und Relaxed Performance. Mehr Infos unter www.theaterformen.de/barrierefreiheit
Fotos Robbie Sweeny, Sven Hagolani