Nackt gemacht

Der Helmstedter Rapper Siggi the Kid präsentierte Ende Januar seine vier Songs umfassende Debüt-EP „38666“und transportiert darauf die Gefühlslage des Aufwachsens in den öden Vororten.

Der Titel dieser EP, „38666“, klingt erstmal wie eine regionalansässige Postleitzahl eines Pilgerorts für Satanisten. Woher rührt der Name wirklich? „In der Platte geht es viel ums eigene Aufwachsen hier in der Region“, sagt Siggi the Kid, der eigentlich Simon Günther heißt und in der Gemeinde Beierstedt im Kreis Helmstedt lebt. Seit dem 29. Januar ist die Scheibe sowohl auf CD als auch zum Streamen verfügbar. „Ich habe die Platte aber nicht nach einem expliziten Ort benennen wollen, dann wäre es zu offensichtlich geworden. Das Aufwachsen auf dem Land und in der Kleinstadt ist ja immer so ein Fluch und ein Segen zugleich, sehr entspannt und ruhig, aber genau das verteufelt man irgendwann. So kam der Name ‚38666‘ zustande, ein Symbol fürs buchstäbliche Hinterland.“ Die Platte urteilt hier nicht, sondern bildet Gefühle ab. Siggi beschäftigt sich mehr mit eigens Erlebtem und münzt dies um in lebhafte Bildsprache und zu einem schemenhaften Abdruck vergänglicher Jugendlichkeit. „Es ist schon eine Coming-of-Age-Scheibe“, sagt Siggi.

Die musikalische Verstrickung
Siggi hat ein Herz und das schlägt sowohl für Hip-Hop als auch für ungehobelte Gitarrenmusik jeder Art. In der Helmstedter Post-Punkband Wolkenkratzer spielt er Bass und singt. Klar, das metaphorische Bild der zwei getrennten Herzen aufgrund unterschiedlicher Musikeinflüsse, die parallel bestehen, böte sich dem geneigten Kulturredakteur hier an, doch wird bewusst, dass es keine separierten Blutkreisläufe braucht, um beides zu vereinen: „Leute haben mich gefragt, was das denn so für Musik sei, die ich da mache, weil sie mich nur als Teil von Wolkenkratzer kannten. Ich komm aus einem Ort, wo die Punks und die Rap-Fans immer cool miteinander waren. Beide Seiten haben auf mich abgefärbt.“ Auf der Platte „38666“ sind diese Einschläge präsent. Klar, das ist kein Punkrock, dafür sind die Songs zu ruhig und grüblerisch, aber der DIY-Geist ist da, auch weil Siggi neben seinen Rap-Parts den Großteil der Instrumente selbst eingespielt hat. „Ich habe von beiden Lagern sehr gutes Feedback und Lob bekommen“, freut sich Siggi.

Melancholie ohne Reue
Mit dem titelgebenden Song „38666“ schließt die EP und macht klar, dass es hier wirklich um einen fiktiven Ort geht. Träume und Sehnsüchte, endlich mal das gewohnte Nest zu verlassen und auszubrechen. Da träumen die einen vom großen Amerika, ein anderer fühlt sich perspektivlos und gleichzeitig ist im „Hinterland nur Zeit verschwenden mit Kaltgetränken interessant.“ Das sind Lines als purer Identifikationszündstoff einer oft so orientierungslosen Jugend: „Der Song ‚38666‘ ist ruhig, da passiert im Instrumental recht wenig. Es ist eher wie eine klangliche Untermalung, während ich jemandem eine Geschichte erzähle, wie es war, hier aufzuwachsen. Es rahmt die Zeit ein, die wir hatten.“ Und wieder: Es gibt keine Wertung, auch wenn die Melancholie sich Bahn bricht. „Manche haben mich gefragt, warum das alles so traurig klingen muss, wir hätten ja auch schöne Zeiten gehabt. Und es stimmt, wir haben viel gelacht und hatten gute Momente und doch war alles immer in eine gewisse Tristesse getaucht. Diesen Eindruck wollte ich vordergründig präsentieren.“

Seelische Nacktheit
„Du machst dich ziemlich nackt mit so einer persönlichen Platte, weil es einfach sehr eigene einschneidende Erfahrungen sind, die ich hier mitteile“, erklärt Siggi. Der Schmerz, der auf Melodien gebannt wird, ist aber wie so oft für Zuhörer in ähnlichen Situationen der Balsam und etwas, in das man sich gerne flüchtet. So auch hier: „Das Schöne an Kunst ist, dass Menschen ihre eigene Interpretation mit reinlegen können. Wenn mir Leute sagen, ein Song von mir hätte sie berührt, ist das das größte Lob.“

Und auch wenn Künstler wie Siggi the Kid gerade zu pandemischer Live-Enthaltsamkeit gezwungen sind, ist es schön zu sehen, dass Musik aus der Region ankommt. Alle Songs der EP haben bereits kurz nach ihrem Erscheinen die magische 1 000er-Marke an Spotify- Streams geknackt. Die Platte wirkt – ob gewollt oder nicht – wie ein idealer Soundtrack zur nasskalten Jahreszeit inklusive der notgedrungenen sozialen Isolation.

Fotos Siggi the Kid

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Simon Henke

Geschrieben von Simon Henke

Verspätete Anerkennung

Gesichter einer Branche