Sie hatte die wohl gewaltigste Stimme ihrer Generation:
Amy Winehouse. Ihre Karriere war kurz und chaotisch, Drogen und Alkohol waren ihre ständigen Begleiter. Sie starb mit nur 27 Jahren. Am 11. April kommt ein Biopic über die „Jahrhundertsängerin“ ins Kino. Von ihrem ehemaligen Bandleader Dale Davis erfuhr Olaf Neumann, wie Winehouse wirklich war.
Sie war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Geboren am 14. September 1983 in London als Tochter des Taxifahrers Mitch und der Apothekerin Janis Winehouse, kam Amy Jade schon früh mit Musik in Berührung. Brüder ihrer Mutter waren professionelle Jazzmusiker, und ihr Vater sang schon als Kind mit seiner Familie. Als Zehnjährige stand sie auf amerikanische R&B- und Hip-Hop-Acts wie TLC und Salt-N-Pepa und gründete die Rap-Crew Sweet ‚n Sour. Mit zwölf wurde Amy Winehouse in die renommierte Sylvia Young Theatre School aufgenommen und bekam ihre erste Gitarre. Doch mit 16 flog der schwierige Teenager von der Schule. Da hatte ihr Vertrauter Tyler James bereits ihr Demoband an das Majorlabel Universal weitergegeben, das eine Jazzsängerin suchte. So kam sie zu ihrem Plattenvertrag.
Als Winehouse eine Band zusammenstellen wollte, wurde Dale Davis zum Vorspielen eingeladen. Der renommierte Bassist (Tina Turner, Jamie Cullum, Mark Ronson) erinnert sich, dass er von ihr auf mannigfaltige Weise fasziniert war — von ihrer Art zu singen, ihrem Songwriting und ihrer Bühnenpräsenz.
Amys gewaltige Soulstimme war geprägt von jazziger Verspieltheit und Phrasierung. „Sie war ein Naturtalent“, so Davis. „Wir hatten nicht in jeder Hinsicht denselben Musikgeschmack, aber schon viele Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel unsere Liebe für Hip-Hop, Soul und Jazz“.
Noch bevor sie weltweiten Ruhm erlangte und ihren legendären Look einführte, erschien 2003 das Debütalbum „Frank“. Es wurde von der Kritik gefeiert und für den Mercury Music Prize sowie zwei BRIT Awards nominiert. Die Single „Stronger Than Me“ brachte der Newcomerin einen Ivor Novello Award und Doppel-Platin-Status ein.
Am Anfang sei Winehouse nicht im Geringsten chaotisch gewesen, entgegnet Dale Davis anderslautenden Gerüchten. „Amy hatte die Fähigkeit, ihre Gedanken in Worte zu fassen, die die Menschen berühren. Sie war überhaupt nicht kompliziert und eine unheimlich musikalische Person.“
Bei den Brit Awards wurde sie wegen des Erfolgs ihres zweiten Albums „Back To Black“ zur besten weiblichen Solokünstlerin des Jahres 2007 gekürt. Dort sah man den typischen Winehouse-Look in voller Wirkung — von der voluminösen Bienenkorb-Hochsteckfrisur der Sängerin über ihren dicken Eyeliner bis hin zum schwarzen BH, der aus ihrem gewagten Minikleid herausschaute. In ihrem Hit „Rehab“ sang sie, sie wolle keine Entziehungskur machen. Dort gebe es nichts zu lernen, was Ray Charles oder Donny Hathaway ihr nicht beibringen würden. Dass ihr Leben mit der Zeit chaotischer wurde, bestätigt Dale Davis, aber das sei bei jedem Major-Künstler der Fall. Viele haben versucht, ihr zu helfen, und so konnte sie gegen Ende ihrer Karriere, als sie so oft neben sich stand, immer noch singen und auftreten.
Während ihres Aufstiegs zum Superstar unter ständiger Beobachtung durch Londoner Paparazzi entstand Amy Winehouse’ Ruf als labiles Partygirl. Zu Auftritten erschien sie oft zu betrunken, um ein ganzes Programm zu singen. Auch begann sie eine turbulente Beziehung mit dem Musikvideo-Assistenten Blake Fielder-Civil, der später zugab, Winehouse in die Welt der harten Drogen eingeführt zu haben. 2007 heiratete das Celebrity-Paar am Strand von Miami. In der Öffentlichkeit arteten ihre Auseinandersetzungen oft in Faustkämpfe und andere dramatische Szenen aus.
Aber ihr Antrieb war immer die Musik. 2008 gewann Winehouse rekordverdächtige fünf Grammys und gab eine unvergessliche Performance via Satellit. „Sie wollte sich durch ihre Songs ausdrücken“, erklärt Dale Davis. „Sie hatte einen hohen Anspruch an sich selbst und wollte immer alles richtig machen. Sie wusste, was sie tat, und hatte genaue Vorstellungen von ihrer Musik, ihrer Mode und ihrem Image.“ Obwohl es wie eine unerwartete Paarung erschien, arbeitete Winehouse mit dem Modelabel Fred Perry an einer Kollektion, die von ihrem eklektischen Stil inspiriert war. Sie trug immer ikonische Motive – von ihren Gürteln bis zu ihren Haaren, von ihrem Eyeliner bis zu ihren Schuhen, von ihren Tattoos bis zu ihren kleinen schwarzen Kleidern.
Ihre letzte Live-Show vom 18. Juni 2011 in Belgrad wurde zu einem Desaster. Winehouse wirkte völlig neben der Spur; anstatt zu singen, umarmte sie ihre Bandmitglieder: für Davis das schwierigste Konzert seiner Karriere. Er kann bis heute nicht glauben, dass sie an dem Abend fast anderthalb Stunden auf der Bühne standen. An das meiste erinnert er sich auch gar nicht mehr. „Uns allen war bewusst, dass dieses Konzert das Ende der Band markiert. Als ich zwei Tage später wieder in London war, teilte das Management mir mit, dass wir eine Pause einlegen werden. Wir wussten, dass es Probleme mit Amy gab.“
Am 23. Juli 2011 war Davis gerade mitten in den Proben mit einem anderen Künstler, als jemand eintrat und rief „Amy ist tot!“ Sie war an einer Alkoholvergiftung mit 4,16 Promille im Blut gestorben. „Meine Knie wurden plötzlich ganz weich und ich fiel rücklings auf einen Stuhl. Wir waren doch für den Abend verabredet!“
Sie sei kein Mensch gewesen, der über seine Probleme sprach, sinniert Davis. „Ich glaube, was sie am Ende umgebracht hat, war ihre Essstörung. Wer nichts isst, der wird über kurz oder lang sterben. So einfach ist das.“
Sam Taylor-Johnson („Nowhere Boy”, „Fifty Shades of Grey“) hat jetzt dieses Leben im Ausnahmezustand verfilmt. „Back to Black“ entstand an verschiedenen Londoner Schauplätzen mit Unterstützung der Winehouse-Familie, der Universal Music Group und Sony Music Publishing. Die heute 27-jährige Protagonistin Marisa Abela („Barbie“) singt die Songs selbst. Wie das Original ist auch sie jüdischer Abstammung und verfügt über eine ähnliche stimmliche Bandbreite. Jack O’Connell verkörpert Winehouse’ große und unglückliche Liebe Blake Fielder-Civil, Eddie Marsan ist ihr Vater Mitch und Lesley Manville ihre Großmutter Cynthia. Nick Cave und Warren Ellis steuern die Filmmusik bei.
Der Regisseurin und Musikerin Taylor-Johnson ging es darum, über die Ikonographie von Amy hinauszugehen und sie als Person zu verstehen. „Wir hatten schon einige brillante Imitationen gesehen“, erklärt die 56-Jährige. „Aber Marisa hat es geschafft, jede Faser ihres Wesens mit dem in Einklang zu bringen, was Amy Winehouse war und für viele Menschen ist. Sie hat sie verkörpert.“
Fotos Universal