Interview mit Hans Steinbichler zu „Ein ganzes Leben“
Mit dem Alpendrama „Hierankl“ gab Hans Steinbichler vor zwanzig Jahren sein Kinodebüt. Und holte damit den Bayerischen Filmpreis samt zweifachen Grimme-Preis für Buch und Regie. Drei Jahre später folgte „Winterreise“, die dem Hauptdarsteller Josef Bierbichler eine Lola bescherte. Zu den weiteren Filmen gehören „Die zweite Frau“ mit Monika Bleibtreu, „Das Blaue vom Himmel“ mit Hannelore Elsner sowie „Das Tagebuch der Anne Frank“. Vor drei Jahren verfilmte der Regisseur den biografischen Roman „Hannes“ der Eberhofer-Krimiautorin Rita Falk. Nun präsentiert Hans Steinbichler die Verfilmung von „Ein ganzes Leben“ nach dem Erfolgsroman von Robert Seethaler. Erzählt wird die Lebensgeschichte des Waisenjungen Andreas Egger, der zu Beginn des vorigen Jahrhunderts auf dem Bergbauernhof seines Onkels aufwächst. Mit dem Regisseur unterhielt sich Dieter Oßwald.
Herr Steinbichler, Sie werden bisweilen als „Erneuerer des Heimatfilms“ gehandelt. Sind Sie einverstanden mit dem Prädikat?
Im Grunde muss man für so einen Stempel total dankbar sein. Mir gefällt dieses Etikett schon deshalb, weil es mir etwas zuweist, was in der Idee meines Debütfilmes „Hierankl“ gründet. Zugleich muss man auch demütig sein und wissen, wo man herkommt. In meinem Fall habe ich den Bezug zu meiner Heimat über meinen Vater bekommen. Durch ihn habe ich etwas verstanden, worüber ich in meinen Filmen erzählen möchte.
Der Roman „Ein ganzes Leben“ ist sehr introspektiv, auf den ersten Blick eigentlich kaum für das Kino geeignet. Weshalb haben Sie dennoch eine Verfilmung gewagt?
Für mich gehört „Ein ganzes Leben“ zu den wenigen Romanen, die ich nie vergessen habe. Mir erging es beim Lesen so wie einst bei „Das Parfüm“: Es war einfach überwältigend. Umso größer war natürlich mein Respekt vor der Verfilmung dieses Buchs. Der Schlüssel, diesen introspektiven Roman filmisch umzusetzen, lag in der Verwendung der Briefe von Andreas Egger an seine große Liebe Marie. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, eine Dramaturgie zu schaffen, nämlich die Figur der Marie über den ganzen Film zu erzählen. Für diese Idee bin ich unserem Drehbuchautor Uli Limmer sehr dankbar.
Das Buch wird als „Jahrhundertroman“ bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum wurde das Buch mehr als 1,1 Millionen Mal verkauft und in 40 Sprachen übersetzt. Was macht diesen eher sperrigen Stoff so erfolgreich?
Wie leben in einer Zeit der totalen Verunsicherung. Nach meiner Einschätzung gibt es momentan viele Parallelen zu den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Da bietet „Ein ganzes Leben“ eine sehr interessante, andere Sicht auf die Welt. Mit diesem faktisch eskapistischen Roman kann man aus dem ganzen Wahnsinn von Selbstoptimierung, Konsum, Dauer-Wettbewerb und Kriegen zumindest für einige Stunden entfliehen. Und der Stoff bietet zudem tröstliche Botschaften.
Wie sehen diese Botschaften aus?
Die zentrale Botschaft ist, dass man das, was man im Leben bekommt und was einem genommen wird, als ein Gleiches betrachten sollte – schließlich muss man damit leben und kann damit auch leben. Diese Erkenntnis wird aber nicht mit Pathos und Zeigefinger erzählt, sondern in einer sehr zurückgenommenen Art, die einem Räume zum Denken und Sehen ermöglicht.
Welche Rolle spielen die Berge für dieses Drama?
Zum einen sind sie für mich ganz persönlich zentral, denn ich komme aus den Bergen. Mein Vater war Alpinist und Bergjournalist, er hat mir die Berge gezeigt und sie wurden schließlich zu meiner Welt. Zum anderen sind die Berge für die Art der Erzählung entscheidend. Die Landschaft funktioniert wie eine Bühne. Dort halten sich, wie im „Kirschgarten“ von Tschechow, die Menschen auf und verhandeln vor großartiger Landschaft ihre kleinteiligen Dinge. Der Eindruck, der damit entsteht, ist folgender: Heb doch einfach den Blick und schau, was Dir das Leben und die Welt schenkt. Es klingt wie eine Binse, aber es ist die Wahrheit. Atmen, den Blick heben und sehen, wovon und von wem man umgeben ist, ist ein Weg, um mit seinem Leben zurechtzukommen. Die Berge Osttirols, zwischen Großglockner und Großvenediger gelegen, gehören zu den eindrucksvollsten Berglandschaften der Alpen. Und dieser filmische Raum ermöglicht den Zuschauern, den beschriebenen Blick auf die Welt zu verinnerlichen.
Die Berge sind für Dreharbeiten kein Ponyhof. Wie geht man mit Kälte und Wetter um?
Auf 2.500 Höhenmetern im Winter zu drehen war für mich die extremste Arbeitserfahrung, die ich jemals gemacht habe. Wir hatten ein großes Team, natürlich hatten nicht alle Bergerfahrung. Im Winter mussten wir drei Stunden vor Sonnenaufgang aufstehen, um oben am Berg mit der ersten Sonne um 8 Uhr mit der Arbeit beginnen zu können. Das gesamte Team wurde mit Schneekatzen auf einer Art Piste nach oben zum Drehort gefahren. Es konnte passieren, dass man mit der Vorbereitung gerade fertig war und dann die Aufnahmeleitung kam: „Abbruch, ein Schneesturm kommt auf!“. Was Produktion und Team für diesen Film im Winter geleistet haben, ist absolut außergewöhnlich. Dafür ist im Film alles real, es gibt keinerlei visuelle Effekte in der Handlung.
Ihr Hauptdarsteller Stefan Gorski spielt die Rolle im Alter von 18 bis 47. Ist da auch alles echt oder hat künstliche Intelligenz ein bisschen nachgeholfen wie bei Harrison Ford in „Indiana Jones“?
Auch dabei ist alles echt, dank unserer großartigen Maskenbildnerin Helene Lang. Die Hautbeschaffenheit von Stefan Gorski war beispielsweise die Grundlage, die es möglich machte, ihn wirklich als Jüngling mit 18 Jahren hinzustellen. Und ihn später mit 47 Jahren völlig ausgemergelt aus russischer Kriegsgefangenheit zurückkehren zu sehen. Wenn die Figur im späteren Alter von August Zirner gespielt wird, ging es mir nicht so sehr um die äußere Ähnlichkeit, sondern um die emotionale Gleichartigkeit. Beide Eggers, der jüngere und der ältere, fühlen sich gewissermaßen ähnlich an!
Sie haben mit „Hannes“ einen biografischen Roman von Rita Falk verfilmt. Hätten Sie nicht auch mal Lust, deren Eberhofer-Krimis zu verfilmen?
Ich schätze Rita Falk über alle Maßen und die Eberhofer-Verfilmungen sind eine spezielle filmische Kunstform. Machen würde ich das schon gerne einmal…
Fotos TOBIS Film