Mit Bildern erzählen

Das 36. Braunschweig International Film Festival gewährt Einblicke in Geschichten aus aller Welt – in diesem Jahr mit besonderem Schwerpunkt auf die ukrainische Filmkultur.

Egal ob sieben Minuten oder 120 – eine kunstvolle Kinematografie, bewegende musikalische Komposition und schauspielerische Authentizität können einen schon binnen kürzester Zeit in ihren Bann ziehen oder eben einen ganzen Abend lang fesseln. Der Film schafft es wie kaum eine andere Kunstform, einen so intensiven Zugang in unbekannte Welten zu ermöglichen, in andere Lebenswirklichkeiten zu entführen und in fremde Kulturen einzutauchen. Ob Kurz- oder Langfilm, Dokumentar- oder Spielfilm; nationales oder internationales Kino – sich voll und ganz auf die Leinwand zu fokussieren, Geschichten wirken zu lassen, persönliche Interpretationen zu finden und mit nach Hause zu nehmen, ist doch immer eine unvergleichliche Bereicherung. Aus der Begeisterung für den Film und dem Bedürfnis nach einem breiteren cineastischen Angebot gründete eine Handvoll Kunststudent:innen 1986 den Internationales Filmfest Braunschweig e. V., der seitdem Jahr für Jahr eine anspruchsvolle Auswahl internationaler Filme und tausende Besucher:innen in die Kinosäle der Stadt bringt.

 

Position beziehen, Flagge zeigen
In diesem Jahr ereignet sich das siebentägige Festival bereits zum 36. Mal und wartet wieder einmal mit einem vielfältigen Programm aus aller Welt auf. Schon seit vielen Wochen sichtet das BIFF-Team unzählige Filme, wählt sorgfältig die besten Streifen aus und kreiert vielseitige Programmsparten, die allesamt einen Blick auf ungewöhnliche Charaktere, bewegende Schicksale und bisher unerzählte Geschichten richtet. So wurden wir im vergangenen Jahr mit dem Heinrich-Gewinner 25 YEARS OF INNOCENCE etwa Zeug:innen der grausamen Ungerechtigkeiten gegen Tomasz Komenda in einem polnischen Gefängnis, haben Léo Corvard in THE THIRD WAR während seines Kampfes auf den Straßen von Paris begleitet oder in GIRLSBOYSMIX eindringliche Einblicke in Wen Longs Leben als intersexuelle Person bekommen.

In diesem Jahr richtet das Braunschweig International Film Festival abermals den Blick auf besondere Themen, die gesehen und gehört werden sollen – Geschichten, die vielleicht nur mit Bildern erzählt werden können. So kooperiert das BIFF etwa mit zwei ukrainischen Filmfestivals, um damit aktiv einen Beitrag zum Schutz und zur Stärkung der ukrainischen Filmkultur zu leisten. In Zusammenarbeit mit dem Kyiv International Short Film Festival und dem Odesa International Film Festival wird eine Vielzahl ukrainischer Kurz- und Langfilme gezeigt. „Wir stehen als Braunschweig International Film Festival für eine europäische Kultur des friedlichen Zusammenlebens, des wechselseitigen Austauschs und gegenseitiger Unterstützung“, stellt das Filmfest-Team aus Braunschweig klar, „wir leben die Herausbildung einer europäischen Identität!“. Damit symbolisiert das hiesige Filmfest seine uneingeschränkte Solidarität für die ukrainische Bevölkerung und der Aufrechterhaltung des dortigen öffentlichen Lebens.

Grenzenloser Austausch
In der Reihe „Independents: Ukrainian Cinema between 1991 and 2021“ werden insgesamt zwölf ukrainische Filme der vergangenen 30 Jahre zu sehen sein – darunter sieben Lang- und fünf Kurzfilme. In der Kurzfilmreihe stammen die Beiträge allesamt von ukrainischen Regisseurinnen. Trotz des anhaltenden Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine thematisieren die „Ukrainian Independents“ nicht die gegenwärtige Situation ihres Landes, jedoch ist die Geschichte der Ukraine schon lange von militärischen Angriffen geprägt, sodass kriegerische Handlungen dennoch viele Filmemacher:innen in ihrem Schaffen beeinflussen.

So verarbeitete etwa Regisseur Valentyn Vasyanovych in ATLANTIS (2019) den seit vielen Jahren bestehenden Konflikt in der Ostukraine in ein dystopisches Science-Fiction-Drama. Vasyanovych filmte außerdem Myroslav Slaboshpytskiys vielfach gelobtes Werk THE TRIBE (2014), das ebenfalls beim diesjährigen Filmfestival in Braunschweig zu sehen sein wird. In dem rauen Jugenddrama begleiten wir einen gehörlosen Teenager in eine brutale Welt der Wut, Gewalt und Anarchie. Innerhalb der ukrainischen Filmreihe ist außerdem die schmerzhafte Dokumentation SPELL YOUR NAME herauszustellen, die Sergey Bukovsky 2006 in Zusammenarbeit mit Steven Spielberg fertigstellte. Darin berichten Überlebende vom Babyn Jar Massaker, bei dem 1941 weit mehr als 30 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder durch deutsche Truppen hingerichtet wurden. Die Bewältigung von kriegsbedingten Traumata thematisiert außerdem die Dokumentation THE EARTH IS BLUE AS AN ORANGE (2020) von Iryna Tsilyk sowie OXYGEN STARVATION (1992) von Andriy Donchyk. Seichter wird es hingegen in der Komödie MY THOUGHTS ARE SILENT (2019) von Antonio Lukitsch.

Einige der „Ukrainian Independents“ sind keine leichte Kost – wo viele wegsehen, werden Filmemacher:innen aktiv und machen Themen sichtbar. Doch die Sprache des Films hilft uns auch dabei, Krisen zu verstehen und durch das gemeinschaftliche Filmerlebnis vielleicht auch zu verarbeiten. Mit der Sichtbarmachung der schon so viele Jahre anhaltenden Zustände in der Ukraine symbolisiert das Braunschweig International Film Festival seine Solidarität, ermöglicht einen wechselseitigen Austausch und bietet die passende Bühne für eindrucksvolle Filmwerke.
Bevor das 36. Braunschweig International Film Festival im November stattfindet, gibt es im Universum Filmtheater bereits einige Sonderfilmvorstellungen.
Wer schon jetzt BIFF-Feeling bekommen möchte, kann am 18. September den Weimarer Sensations-Kriminalfilm DIE HOCHBAHNKATASTROPHE (1921) mit musikalischer Live-Begleitung erleben. Eine zweite Veranstaltung zum Weimarer Kino findet im November statt. Mehr dazu erfahrt ihr in der nächsten SUBWAY.


DIE HOCHBAHNKATASTROPHE (1921)
Das öffentliche Transportsystem einer Großstadt wird durch Anschläge bedroht. Meisterdetektiv Harry Hill nimmt den Kampf gegen Verbrechen und Terror auf, unterstützt von der unerschrockenen Tochter des Bahndirektors. Dieses Juwel des populären Kinos der Weimarer Republik glänzt mit sensationellen Stunts und komischen Momenten. Zunächst wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ verboten, entwickelte sich DIE HOCHBAHNKATASTROPHE vor 100 Jahren zu einem absoluten Publikumshit.
Am Klavier live begleitet von Richard Siedhoff aus Weimar. Mit einer Einführung von Dr. Michael Grisko und Edgar Merkel.

DIE HOCHBAHNKATASTROPHE | 18. September, 11 Uhr
Universum Filmtheater (BS) | universum-filmtheater.de

36. Braunschweig
International Film Festival
7. bis 13. November | diverse (BS)
filmfest-braunschweig.de

Fotos The Earth Is Blue As An Orange (2020), The Tribe (2014),
DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt

 

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Louisa Ferch

Geschrieben von Louisa Ferch

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